DISCLAIMER: Entgegen dem allgemeinen Stil dieses Blogs wird der folgende Beitrag episch ausfallen. Der Leser sei gewarnt.
Als wir vor zwei Jahren den malayischen Teil von Borneo besuchten, waren wir von der riesigen Dschungelinsel fasziniert. Obwohl auch hier viel Holz gerodet, enorme Palmölplantagen aufgebaut und rücksichtslos Kohle, Gold und andere Bodenschätze abgebaut werden, bestehen immer noch fast unberührte Primärregenwälder. Die erste Borneodurchquerung gelang dem holländischen Naturforscher Anton Willem Nieuwenhuis 1894. Die Route entlang des Äquators hat sich in mehr als 100 Jahren praktisch nicht verändert und ist nach wie vor begehbar. Eine Idee reift in unseren Köpfen heran.
Als wir am Strand von Koh Phangan unsere weitere Reise planen, wird die Idee konkreter. Der Plan ist von Samarinda im Osten von Kalimantan (die indonesische Seite von Borneo) den Mahakam Fluss hinaufzufahren und dann zu Fuss über den sogenannten “Müller Trail” über die Müller Range. Georg Müller war einer der ersten Borneo Forscher und wurde 1834 von den Dayak getötet und der Legende nach verspiesen. Auf der Westseite wollen wir sodann den Kapuas Fluss wieder herunterzufahren bis Putussibau und mit dem Auto nach Pontianak an die Westküste von Kalimantan. Die beiden genannten Flüsse bilden je fast 1000 km lange Verkehrsadern mitten hinein in die Tiefen des Dschungels von Borneo und machen ihn so “relativ” zugänglich. Wir rechnen mit 17 Tagen für die Durchquerung, davon acht Tage zu Fuss durch den Regenwald.
Tag 0: Ankunft
Wir landen in Balikpapan an der Ostküste von Kalimantan und treffen unseren Guide, Kiswono. Bei unseren Vorbereitungen haben wir vier Guides angeschrieben und uns aus mehreren Gründen schliesslich für ihn entschieden. Es gibt nur eine handvoll erfahrene Guides, die einem quer durch Borneo führen können. Heute erfahren wir, dass unser Guide dabei war, als vor zwei Jahren ein Holländer auf dem “Müller Trail” ums Leben gekommen ist. Wir versuchen es positiv zu sehen; zumindest hat er Erfahrung mit Extremsituationen.
Tag 1: Letzte Vorbereitungen
Nach Rücksprache mit Kiswono finalisieren wir unser Reisegepäck. Nicht dabei sind Moskitonetz (im Nachhinein ein schlechter Rat von ihm, aber wir nehmen dafür Malariaprophylaxe ein) und Regenschutz/Schirm. Wir reisen mit leichtem Gepäck, wenigen Kleidern und nur dem Nötigsten. Den kleinen Luxus von Toilettenpapier wollen wir uns auch im Dschungel nicht vergönnen. Der gesamte Rest wird per Kurier nach Pontianak geschickt. Wir kaufen uns noch einen Schlafsack, dann geht es in vier Stunden Autofahrt nach Samarinda. Unterwegs haben wir Gelegenheit eine der schönsten Moscheen von Kalimantan zu besichtigen. Ab hier werden wir bis Pontianak keine weissen Gesichter mehr sehen, mit einer kleinen Ausnahme.
Derweil erfahren wir von Kiswono, dass seine beiden letzten Expeditionen quer durch Borneo gescheitert sind. Vor zwei Jahren ereignete sich der erwähnte Todesfall und vor drei Jahren hat ein deutsch/schweizerisches Paar nach drei Tagen im Dschungel aufgegeben. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, dass unser Guide vor vier Jahren das letzte Mal erfolgreich Borneo durchquert hat.
In Samarinda besorgen wir uns Damenstrumpfhosen, schneiden sie ab und basteln uns so improvisierte Blutegelsocken (richtige “Leech Socks” konnten wir weder in Bangkok, Singapur noch Indonesien auftreiben). Ich lasse mir noch ein zusätzliches Loch in den Gurt stechen aus weiser Voraussicht des drohenden Gewichtsverlusts, der sich auch verwirklichen wird. Wir erfreuen uns zum letzten Mal an zivilisatorischen Errungenschaften wie einer Dusche, einem anständiges Essen im Hotel und Handyempfang. Der Muezin singt praktisch die ganze Nacht durch, es ist immer noch Ramadan. Dennoch schlafen wir gut.
Tag 2: Eine gemütliche Flussfahrt
Früh morgens begeben wir uns zum kleinen Flusshafen und besteigen das grosse Hausboot, das den Mahakam flussaufwärts fahren wird. Als einzige Buleh (Weisse) sind wir zunächst eine kleine Attraktion. Bald gehören wir aber irgendwie zum Inventar und fallen nicht mehr weiter auf. Im oberen Stock hat es gemütliche dünne Liegen im Stil eines Massenlagers oder Sklaventransports. Vorne auf dem Schiff befindet sich eine Mini-Terrasse mit herrlicher Aussicht. Zu Beginn ist der Flussverkehr noch relativ dicht mit vielen Kohletransportern, wird aber je länger je dünner. Wir passieren die Orte Kota Bangun und Muara Muntai. Die Fahrt geht langsam, ist aber sehr gemütlich und romantisch, kein Vergleich zum überfüllten touristischen Slow Boat in Laos. Wir lesen viel während wir tiefer in den Dschungel eindringen. Das Schiff fährt die Nacht hindurch. Wir sehen Lichter auf dem Fluss schimmern, es sind kleine Fischerboote.
Tag 3: Wildwasserfahrt
Um sechs Uhr morgens werde ich durch heftige Diskussionen aus dem Schlaf gerissen. Einige Männer sind auf das Boot gekommen und verhandeln lauthals mit den Passagieren. Wir haben im Dorf Longiram angelegt und die Männer erzählen mir, dass das Boot wegen dem tiefen Wasserstand nicht bis ans Ziel fahren kann. Ich wecke Anne und Kiswono, wir essen ein gemütliches Cup Noodles-Frühstück auf dem Boot und organisieren dann ein kleines Speedboat nach Long Bagun. Der Mahakam fliesst nun durch Primärwald tiefer ins Land hinein. Siedlungen, Boote und andere zivilisatorische Anzeichen werden rarer. Die Kohlestransporter sind verschwunden. Grosse, locker zusammengebundene Flosse aus riesigen Baumstämmen offenbaren, dass hier Holzfällerterritorium ist. Auf diesen Flossen haben Einheimische ihre Zelte aufgebaut und treiben langsam flussabwärts. Wir passieren spektakuläre Felsschluchten und schöne Steinformationen.
Am Mittag erreichen wir Long Bagun. Dort organisieren wir uns ein weiteres kleines Speedboat nach Tiong Ohang. Die Transportpreise steigen enorm, da jeder Tropfen Benzin hier mühsam in kleinen Booten gegen den Strom den Fluss hinauf transportiert werden muss. Die nächsten vier Stunden Bootsfahrt werden wild. Die Stromschnellen des oberen Mahakam stellen die Wildwasserbahn im Europapark locker in den Schatten. An einigen Stellen müssen wir aussteigen und die Strecke am Ufer entlang stolpern. Der Oberlauf des Flusses wird kaum mehr befahren. Wir sehen nur wenige lokale Goldschürfboote, kleine Rostlauben, die mit Baggern oder Saugvorrichtungen das Sediment aus dem Fluss heben und sieben. Siedlungen sind hier kaum mehr vorhanden. Wir fahren vorbei an vielen wunderschönen Wasserfällen, jeder allein könnte für sich eine Touristenattraktion sein.
Gegen Abend erreichen wir Tiong Ohang und Tiong Bu’u. Die beiden kleinen Dörfer links und rechts des Flussufers sind mit einer kleinen Fussgängerbrücke im Toni Rüttimann-Stil verbunden (die Brücke sei jedoch von der Regierung erbaut worden). Wir übernachten in einem einfachen Losmen, einem Holzzimmer mit Bett und einem Gemeinschaftswasserhahn. Vor Sonnenuntergang holen wir uns noch die Bewilligung der lokalen Polizei um den Trek durch den Dschungel und das Grenzgebiet zu Malaysia antreten zu dürfen. Auch im Dorf sind wir zunächst eine Attraktion und werden von Jung und Alt angesprochen mit “Hello Mister” oder “Buleh Buleh”-Rufen. Bald aber hat man sich an uns gewöhnt. Den Abend verbringen wir auf der schönen Holzterrasse mit Blick auf den Fluss und die “Hauptstrasse” des Dorfes. Tiong Ohang ist nicht ans Strassennetz angebunden, die Dorfstrassen sind entweder Holzwege auf Stelzen oder Lehmwege, die noch Fragmente von altem Asphalt tragen. Keine Autos, aber wir sehen doch den einen oder anderen Roller im Dorf.
Tage 4: Letzte Erledigungen und Warten auf den Abmarsch
Nach der zweiten Registrierung bei der Militärpolizei, müssen die Träger und das Boot organisiert werden, das uns weiter flussaufwärts bringt. Die Träger, die unser Guide Kiswono eigentlich engagieren wollte, sind leider seit gestern am Goldschürfen und nicht erreichbar (im Dorf steht zwar eine Mobilfunkantenne, aber die funktioniert nicht). Wir finden Ersatzträger: Doko der Vater und sein Sohn Amin. Später wird sich herausstellen, dass auch sie seit vier Jahren keine Durchquerung mehr gemacht haben. Am Nachmittag kommen Doko und Amin vorbei und nehmen das Logistikgepäck in Empfang: Zelt, Plachen, Kochutensilien, 15 kg Reis und weitere Lebensmittel für zehn Tage.
Später erkunden wir weiter das Dayak Dorf und besorgen mehr Toilettenpapier. Wir sind uns nicht sicher, ob wir das Papier als gutes Beispiel raustragen wollen. Was ökologisches Verhalten in diesem Land angeht, sind wir völlig desillusioniert. Abfall und Plastik wird überall einfach auf die Strasse oder in den Wald geworfen. Plastik wird oft auf kleinen Häufchen verbrannt, auch mitten in den Städten. Hier im Dschungel ist der Fluss der Abfalleimer. Gestern hatte Anne unsere Cup Noodles-Plastikbecher brav im Abfalleimer entsorgt und musste nachher mit Entsetzten sehen, wie die Bootsfrau diesen einfach in den Fluss entleerte. Wir beschliessen, dass wir nur das biologisch abbaubare WC Papier zurücklassen werden und alles andere heraustragen. Unsere Begleiter finden dafür nur Unverständnis. Für sie ist es normal, eine Plastikspur (inkl. Batterien und leere Gasflaschen) zu hinterlassen. Der Ökotourismus hat es leider noch kaum nach Indonesien geschafft.
Tag 5: Weiter zu Fuss
Die Träger kommen zwar mehr als eine Stunde zu spät, aber kurz nach neun Uhr fahren wir mit dem motorisierten Kanu flussaufwärts durch die Stromschnellen. Wieder müssen wir einige Male aussteigen und am Ufer entlang klettern, damit das Boot durch die Untiefen gelangt. Manchmal durchfahren wir in den Stromschnellen zwischen den Felsen nur kleine Kanäle , die kaum breiter als unser Kanu sind. Am Mittag erreichen wir unseren Startplatz, von wo wir nach einem kurzen Mittagsessen zu Fuss aufbrechen in den Regenwald von Borneo.
Es geht zunächst steil bergauf und wieder bergab. Bei der ersten Flussquerung versuche ich noch herüberzuklettern ohne nasse Füsse zu kriegen. Bald sehe ich jedoch die Sinnlosigkeit dieses Ansinnens ein, denn wir queren heute noch mehr als ein Dutzend knietiefe Flüsse. Der 24-jährige Träger Amin kommt oft nicht nach und wir müssen warten. Da unser Guide aber genauso oft nicht weiss, wo es langgeht, gleicht sich das wieder aus. Beide Träger führen Macheten bei sich um sich den Weg durch den undurchdringlichen Wald zu bahnen (wenn man grad den eigentlichen Pfad nicht findet, was bei uns eher die Regel als die Ausnahme werden soll). Doko, der 45-jährige Vater, trägt ausserdem ein Gewehr, das eher wie ein selbstgebasteltes Kinderspielzeug aussieht. Er läuft barfuss, was ihm viele Blutegelbisse einbringt. Seine blutenden Füsse scheinen ihn wenig zu kümmern. Unsere selbstgebastelten Blutegelsocken hingegen bewähren sich und wir haben den Tag durch keine Blutegelbisse. Die ungefähr zwanzig kleinen Würmer, die an uns raufklettern, können nicht unter unsere Kleidung schlüpfen. Gegen Abend erreichen wir den ersten Rastplatz. Wir bauen das Lager auf und waschen uns im Fluss. Ich bin erstaunlich müde und fühle mich matt. Zum Abendessen gibt es Reis, Nudeln und ein wenig getrockneten Fisch. Dann wird Anne doch noch von einem Blutegel gebissen. Ausser diesen Tierchen hat es im Camp vor allem Spinnen und Bienen. Erstere sind einfach zu erkennen, da ihre Augen den Schein der Taschenlampe reflektieren. Es schauen mir erschreckend viele solcher Augen entgegen… Ansonsten ist die Stimmung romantisch, wir sehen sogar ein paar Sterne, der Lärm des Dschungels ist ohrenbetäubend.
Um 22 Uhr wache ich auf und habe 38.1°C Fieber. Wir schliessen schlimmere Ursachen wie Malaria oder Dengue aus und schieben das auf den Durchfall, den ich seit ein paar Tagen nicht wegkriege. Die Entscheidung, wie wir darauf reagieren wollen, wird auf morgen verschoben. Umkehren ist ultima ratio.
Tag 6: Das Grab
Wir merken nicht viel davon, dass heute der 1. August ist. Das Fieber ist zurückgegangen und es geht mir besser, wir beschliessen weiterzugehen. Am Morgen ist der Weg gut. Amin kommt heute besser mit. Der Vater läuft weiterhin barfuss und sogar nur in Unterhosen. Nach dem Mittag geht es wieder steil bergauf und der Weg ist praktisch inexistent. Diese Route wird kaum mehr begangen, normalerweise wird hier ein Umweg eingeschlagen. Der Grund: Wir erreichen bald das Grab von John, der Holländer der im Oktober 2011 hier verstorben ist. Über die Geschichte gibt es mehrere Versionen. Wir haben gehört, er habe sich den Kopf angeschlagen, als er auf einem rutschigen Stein ausgerutscht sei. Gemäss unserem Guide Kiswono (der ja dabei war!), sei John 140 kg schwer gewesen und schon am ersten Tag fast nicht nachgekommen. Dann wäre er tatsächlich auf einer rutschigen Felsplatte ausgerutscht und habe sich dabei den Hintern angeschlagen. Eine halbe Stunde später sei er kollabiert und verstorben. Diagnose unseres Guides: Erschöpfung, was immer das heissen mag. Nach seinem Tod habe man dann lange diskutiert und dann beschlossen, Johns sterbliche Überreste an Ort und Stelle zu beerdigen. Natürlich gab es eine polizeiliche Untersuchung, aber offensichtlich keine Verurteilungen. Ich stehe gerade zögernd auf erwähnter sehr rutschiger Felsplatte als mir Kiswono zuruft, dass ich aufpassen soll, weil John hier gefallen sei. Das ist doch mal gute Motivation… Mit Annes Hilfe schaffe ich es über die schwierige Stelle. Nach Überquerung der Felsplatte erreichen wir das Grab von John V. mit einem einfachen Holzkreuz, das mit Name und Daten beschriftet ist. Doko und Amin legen je eine Zigarette auf das Grab.
Mitte Nachmittag kommen wir bereits zum vorgesehenen Nachtlager, beschliessen aber weiterzugehen um näher an die Berge heranzukommen und morgen einen kürzeren Aufstieg zu haben. Der Weg wird für mich zur Qual, der Fieberanfall von gestern ist doch nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Anne bietet sich heroisch an die Rücksäcke zu tauschen (meiner ist 14 kg, ihrer 7 kg). Nicht einmal hundert Meter weiter erreichen wir jedoch einen Lagerplatz. Es beginnt zu regnen. Bald stellt sich heraus, dass das Zelt entgegen den Behauptungen unseres Guides nicht wasserdicht ist. Da sich der Regen in Grenzen hält, tropft es nur ein bisschen hinein. Statt Spinnen und Bienen tummeln sich an diesem feuchten Platz Blutegel und kleine fingerbeerengrosse Frösche. Ich finde sie süss, Anne weniger. Ich kriege heute den ersten Blutegelbiss ab, sie ist bereits bei Nummer vier, dann zählen wir nicht mehr. Die im Internet recherchierte “Theo-Methode” zur Blutegelentfernung (mit dem Fingernagel das Saugvakuum unterbrechen und dann wegschnipsen) funktioniert übrigens besser als Salz, Feuer oder rohe Gewalt.
Tag 7: Aufstieg über die Müller Range
Heute soll gemäss Kiswono der härteste Tag werden. Es wird sich bewahrheiten, aber vielleicht aus anderen Gründen. Zum Frühstück gibt es Nasi Goreng mit den Resten von Vortrag, welche die Reste der letzten Mahlzeit enthalten ad infinitum. Die seit Tagen anhaltende Reis-Mit-Nudeln-Diät führt zu ersten Anfällen des Ich-Kriege-Keinen-Bissen-Runter-Syndroms. Langes lustloses Kauen schafft leichte Abhilfe. Als wir aufbrechen läuft der Weg entgegen unseren Erwartungen nicht den Berg hinauf, sondern dem Fluss entlang und im Fluss. Der Grund wird bald klar: Unsere Superführer finden den Weg zum Pass über die Müller Berge nicht. Die allgemeine Ratlosigkeit gebietet einen frühen Mittagsstopp. Wir stellen uns auf einen langen Nachmittag ein.
Am Nachmittag treffen wir auf eine Gruppe von vier jungen Einheimischen mit Speeren und Gewehren bewaffnet. Wir erfahren den Zweck ihres Marsches nicht. Doch immerhin finden wir den Aufstieg zum Pass, es geht nun steil bergauf. Die beiden Schweizer kommen gut voran. Der Guide erreicht eine Viertelstunde nach ihnen keuchend den Labuasu, einen Sattel in der Müller Range. Wir seien die ersten, die schneller als er oben waren, meint Kiswono. Wir glauben ihm kein Wort, denn er wirkt generell überhaupt nicht fit. Mitte Nachmittag erreichen wir wiederum den vorgesehenen Lagerplatz. Da es jedoch wenig Wasser hat und hier in der Nacht besonders kalt werden soll (entgegen aller Erwartungen können die Nächte im tropischen Regenwald durchaus kühl werden), beschliessen wir weiterzugehen. In einer Stunde komme ein besseres Camp, meint der Guide. Wenig später kommen wir auf eine kleine Ebene, wo sich der Grenzstein zwischen Ost- und Westkalimantan befindet. Der Platz ist übersäht mit alten Kleidungsstücken mit dicker Moosschicht und Zigarettenpäckchen. Die Sitte verlangt, dass jeder, der diese Grenze zum ersten Mal überschreitet, etwas von sich hier lassen muss. Die beiden Träger, was sollte man auch anderes erwarten, legen je eine Zigarette auf den Grenzstein. Wir kommen dem Brauch nach indem wir zwei Gegenstände hier lassen, die sich leider als nicht dschungeltauglich erwiesen haben. Aus juristischen Gründen verzichten wir auf weitere Ausführungen (aber trotzdem ein Danke an Fw B. H.). Die Chance ist jedenfalls hoch, dass der nächste Schweizer erkennen wird, dass er nicht der erste Landsmann auf der Route ist.
Von nun an läuft der Weg in Flussrichtung der Gewässer, obwohl diese zunächst spärlich bleiben. Es geht steil bergab, der Pfad ist schwierig, wird dann aber flacher. Nach einer Stunde sind wir müde, nach zwei Stunden beginnen wir zu fluchen und nach drei Stunden sind wir nahe dem Zusammenbruch. Die Zeitangabe des Guides und die Kenntnis der Route waren wieder einmal hervorragend. Dieser ist übrigens praktisch nur noch mit sich selbst uns seinem Rucksack beschäftigt, er hat nach Anne den leichtesten von allen. Doko sucht den Weg, Amin zeigt den besten Pfad und hilft uns gelegentlich über Hindernisse. Umgestürtzte Bäume, oft mehr als einen Meter dick, sind zu Dutzenden zu überklettern.
Erst nach sechs Uhr erreichen wir einen Lagerplatz, es wird bereits dunkel. Zu unserer Überraschung hat sich schon jemand auf dem Platz breit gemacht. Noch mehr überrascht sind wir, als wir ein älteres französisches Paar im Moskitonetz unter der Plache sitzen sehen. Was für ein Zufall. Die beiden folgen derselben Route wie wir, nur in umgekehrter Richtung. Wir freuen uns über die unerwartete Gesellschaft, kriegen aber das Nasi Goreng von vor drei Tagen trotzdem kaum herunter. Aus unserem eigenen kleinen Vorrat zaubern wir als schöne Abwechslung ein paar Erdnüsse. Später saugt sich ein Blutegel genüsslich an meiner Stirn fest, ich bemerke ihn gar nicht und Anne auch erst spät, weil sie mich mit ihrer Stirnlampe nicht blenden will. Sie kann das Biest jedoch kaum entfernen und ihre Schlangenphobie entlockt ihr ein paar Schreie. Die Träger sind amüsiert und glauben, wir hätten Streit. Der Guide kann den fetten Wurm dann entfernen.
An dieser sei ein kleiner Exkurs angebracht zu den Tieren, die wir im Dschungel am meisten gesehen haben: Blutegel. Das mühsame an diesen Würmern ist nicht deren Biss an sich, sondern das potente Antiblutgerinnungsmittel. Die Dinger sind zwar hässlich, doch wenn man sich einmal genügend weit aus der Komfortzone entfernt hat, rücken all die Phobien (auch meine Spinnenphobie) etwas in den Hintergrund. Den Biss spürt man meistens nicht. Die von unserem Guide vertretenen Theorie, dass man nur die Bisse der grünen, nicht jedoch diejenigen der braunen Egel spürt, hält keiner empirischen Überprüfung stand. Ob man die Bisse spürt oder nicht hängt unseres Erachtens am ehesten von der Grösse der Tiere ab und ob man an einer empfindlichen Stelle (z.B. innen am Oberschenkel oder am Allerwertesten) gebissen wird, wenn es denn überhaupt eine Regel gibt. Die grünen Egel sind aber viel agiler als ihre fauleren braunen Cousins und klettern sowohl an Bäumen wie an Menschen gerne über Hüfthöhe hinaus. Der Biss ist ansonsten vollkommen schmerzfrei, jeder Mückenstich tut mehr weh. Aber wie gesagt: Das Antigerinnungsmittel dieser Viecher führt dazu, dass die Bisswunde noch Stunden später nachbluten kann. Das führt zu ärgerlichen Flecken und durchaus erschreckenden Szenen (dazu später).
Nach dem Abendessen beginnt es stark zu regnen. Die Schwächen des Zeltes werden nun schamlos offengelegt. Es handelt sich um ein Zelt der Marke “Eiger”, die wohl einzige Outdoor Marke von Indonesien. Dieser Name gaukelt Schweizer Qualität natürlich nur vor, kein ernstzunehmendes Immaterialgüterrechtsgesetz liesse solchen Etikettenschwindel zu. Die Qualität entspricht knapp dem günstigsten Migrosmodell von vor zwanzig Jahren. Die Nacht wird ungemütlich. Bald tropft es an zehn Stellen rein. Tropf, tropf, tropf… Wir versuchen durch unnatürliche Körperhaltungen eine Schlafstellung zu finden, in der wir nicht angetropft werden und nur in kleinen Pfützen liegen müssen. Der Satz trockener Kleider wird verstaut, wir schlafen halbnackt. Ich mache kaum ein Auge zu. Die Moral ist irgendwo im Boden vergraben.
Tag 8: Erste Materialermüdungen
Als wir gestern die Provinz Westkalimantan erreichten, wurden die Uhren eine Stunde zurückgestellt. Es gibt also keinen Stress. Wir leeren das Wasser aus dem Zelt, es hat endlich aufgehört zu regnen. Zum Frühstück gibt es Reis/Nudeln mit leckerem getrockneten Fisch. Auch die Franzosen haben es nicht eilig. Die ganze Gruppe kommt danach gemütlich ins Gespräch. Die Laune steigt langsam wieder. Zum Amüsement oder Schock der Träger und Guides verabschieden wir uns vom französischen Paar landesgemäss mit Wangenküsschen. Erst nach neun Uhr gehen wir los.
Es ist der vierte Tag unterwegs zu Fuss, doch es kommt keine richtige Laufroutine auf, wir sind noch müde von der schlaflosen Nacht. Der Weg ist schwierig, steil hinauf und hinunter, der Boden glitschig vom Regen, oft geht es über rutschige Steine und wir queren den hüfttiefen Fluss unzählige Male. Dieser schimmert rot-ockerfarben von Eisensedimenten. Die Marschkleider sind nun seit vier Tagen ohne Unterbruch nass. Der Leim meiner Weltreiseschuhe, die bisher so tapfer Vulkanbesteigungen, 4000er und andere Mehrtagestreks mitgemacht haben, löst sich langsam auf. Der Vorderteil meines rechten Schuhs könnte man als Krokodil eines Kasperlitheaters einsetzen: Die Sohle bildet den Unterkiefer, die Ristabdeckung den Oberkiefer und mein Fuss die Zunge. Ein ersten Reperaturversuch mit einer Schnur hält nicht einmal eine Flussüberquerung. Ein zweiter Versuch mit extra widerstandsfähigem Kabelbinder-Klebeband hält knapp zwei Stunden.
Am Nachmittag fertigt uns Doko einen Wanderstock, damit geht es besser durch die rutschigen Steine der Bachbette. Wir kommen gut voran. Plötzlich sieht Doko einen Adler am Fluss. Er läuft darauf zu und verscheucht ihn. Am Ort finden wir einen gut 30 cm langen Fisch, der in einem kleinen Wasserbecken neben dem Fluss gefangen ist. Die Pegel der Flüsse können hier zwar enorm rasch ansteigen und sinken, aber das Tier war wohl doch ein bisschen blöd. Der Fisch sieht halbtot aus, Doko packt ihn mit der Hand und steckt ihn in seinen Rucksack. Zum Abendessen gibts gebratenen (Halb-)Frischfisch mit vielen Gräten.
Wir erreichen das Nachtlager schon um vier Uhr nachmittags. Es ist eines der schönsten Lager bisher, gross und offen, fast direkt am Fluss. Wir säubern uns im Fluss, “waschen” die nassen Kleider und stellen das Camp. Wir finden neue Blutegelbisse und Anne wird von einer Biene gestochen. Ich kann den Stachel glücklicherweise schnell mit der Pinzette entfernen. Der Finger wird anschwellen und es wird noch lange ein Bluterguss sichtbar sein. Anne ist tapfer. Ich merke, dass ich ziemlich abgemagert bin (ich habe seit Januar mehr als 6 Kilo verloren). Wir haben langsam viele kleine Schrammen und Kratzer an Armen und Händen. Immerhin beschwert sich Anne nicht über meinen Bart. Ansonsten geht es uns gut, wir sind relativ sauber, relativ trocken und relativ happy. Es ist Halbzeit. Wir sind mehr als einen halben Tag schneller unterwegs als geplant (Fortsetzung folgt).